Schöne Erinnerungen in Hässlichkeit verpackt

«Es ist wie verhext». Birgit Meier steht in der Küche, in der kein Licht mehr brennt – genauso wie auch im Badezimmer und im Wohnzimmer. Sie ruft ihren Hauselektriker bei der Jost Elektro AG in Brugg an. Er solle doch bitte vorbeikommen und eine Wagenladung Leuchtmittel zum Wechseln mitnehmen.

Wenige Stunden später steht Jonas Brunner vor ihrer Tür. «Grüezi Frau Meier. Ich komme wegen der Leuchten bei Ihnen vorbei.» Birgit ist froh, dass so schnell jemand helfen kann. Im Dunkeln zu duschen und zu kochen, ist nicht gerade angenehm. Sie zeigt Jonas Brunner die Leuchte im Badezimmer, die er gekonnt auswechselt. Danach ist das Licht in der Küche an der Reihe. Auch hier geht es ruckzuck.

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«Haben Sie nicht noch etwas von einer Ständerlampe gesagt?», fragt Jonas Brunner. Birgit ist es peinlich. Denn die Leuchte ist nicht gerade eine Schönheit, eigentlich ist sie hässlich. Wobei man das «eigentlich» auch getrost weglassen kann. Ihre Mutter hing an diesem unsäglichen Ding. Es war der erste Kauf, den sie zusammen mit ihrem Ehemann damals für die gemeinsame Wohnung getätigt hatte. Birgit war noch nicht geboren, aber schon unterwegs und noch ahnte niemand etwas. Das war vor rund 40 Jahren.

Diese Erinnerungen nahm ihre Mutter in Form der Lampe mit ins Pflegeheim, in welches sie wegen ihrer immer schlimmer werdenden Multiplen Sklerose umzog. Birgit ist froh, musste ihr Vater das Leiden seiner Frau nicht mehr miterleben. Er durfte ein paar Jahre vor ihr gehen. Als die Mutter starb, brachte es Birgit nicht übers Herz, die Leuchte zu entsorgen. Darum steht diese Beleidigung für das Auge, wie Birgit sie despektierlich nennt, immer noch in ihrem sonst modern eingerichteten Wohnzimmer.

Birgit zeigt dem Elektriker die Ständerlampe. «Hier ist nicht das Leuchtmittel schuld, Frau Meier. Der Regler ist hinüber. In einem solchen Fall ist der Ersatz der gesamten Lampe günstiger als eine Reparatur.»

Birgit ist unschlüssig. Seit sie denken kann, begleitet sie diese Lampe. Es ist ihr klar, dass der monetäre Wert der Leuchte tief ist und ein Ersatz nicht alle Welt kostet. Aber was ist mit dem Erinnerungswert? Jonas Brunner schaut sie an und wartet auf ihren Entscheid. «Nehmen Sie sie mit, Herr Brunner. Schön ist sie ja wirklich nicht.» «Sind Sie sicher?»

Auch wenn er nicht verstehen kann, wieso Birgit dieses potthässliche Ding im Wohnzimmer stehen hat, kann er ihre Verunsicherung spüren. «Ja. Ich bin sicher.»

So nimmt Jonas Brunner die Ständerlampe gleich zum fachgerechten Entsorgen mit. Birgit schliesst die Türe und geht zurück ins Wohnzimmer. Es sieht ganz verändert aus. Die Lampe fehlt ihr. Unglaublich. Kopfschüttelnd verlässt sie die Wohnung und macht sich auf den Weg in ein Beleuchtungsgeschäft in der Nähe. Sie wird sogar auf Anhieb fündig. Die neue Ständerlampe passt in ihr Wohnzimmer, als wäre sie schon immer dagewesen. Birgit gefällt ihre neue Errungenschaft – nur freuen kann sie sich nicht darüber.

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Als sie am nächsten Tag das Wohnzimmer betritt, kommen ihr die Tränen. Ja, sie vermisst die hässliche Lampe – es fehlt ein Teil von ihr. «Ich muss verrückt sein», murmelt sie vor sich hin, als sie die Nummer von Jost Elektro wählt und peinlich berührt nachfragt, ob sie die Lampe doch repariert haben könnte. Jonas Brunner lächelt. Er hat es geahnt und deshalb die Lampe nicht in den Altmetallcontainer entsorgt. Nein. Sie steht noch unversehrt neben seinem Arbeitsplatz. «Ich bringe sie Ihnen morgen vorbei.» Birgit kann ihr Glück kaum fassen. Und so stellt ihr Jonas Brunner die reparierte Ständerlampe in ihrer ganzen hässlichen Pracht am nächsten Tag zurück ins Wohnzimmer. Genau dorthin, wo sie hingehört.

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Und das Beste zum Schluss: Kürzlich traf Birgit ihre Nachbarin. Die Ständerlampe im Wohnzimmer sei kaputt und eine Reparatur lohne sich nicht mehr, erzählte diese. So fand Birgit für ihre neu gekaufte und nur einen Tag lang verwendete Ständerlampe ein gutes Plätzchen. Zufall oder Schicksal? Wir wissen es nicht.